DIE URINPROBE
Der Gutsherr Landhaber ist ebenso für seinen Reichtum, wie für seinen ausgeprägten Geiz bekannt. Nicht zuletzt darum hat er auch noch nie einen Arzt aufgesucht. Nun plagt ihn allerdings seit Wochen ein zunehmendes Unwohlsein. Schweren Herzens begibt er sich zum Doktor, den er wie alle außer sich selbst, für einen üblen Beutelschneider hält.
Nachdem der Arzt sich nach den Beschwerden erkundigt und Landhaber einer eingehenden Untersuchung unterzogen hat, bittet er ihn, ihm am nächsten Tag eine Urinprobe vorbeizubringen, die im Labor untersucht werden müsste. "Bevor wir hier weitermache"“, stoppt der Gutsherr den Doktor, "würde ich gerne wissen, was mich diese Laborgeschichte und die Untersucherei kostet. Ich habe Krankenkassen nie Geld in den Rachen geworfen und werde daher die Rechnung aus eigener Tasche bezahlen müssen!"
Der Mediziner veranschlagt die Kosten mit etwa zweihundert Mark, was Landhaber wie unter einem Peitschenhieb zusammenfahren lässt.
Tags darauf hat er die Urinprobe in einer gläsernen Zweiliter-Flasche abgeliefert und einen weiteren Tag später sitzt er wieder im Sprechzimmer des ?Arztes. Dieser studiert den Laborbefund, setzt die Brille ab und eröffnet dem skeptisch dreinblickenden Gutsherren: "Also, Herr Landhaber, Sie leiden an Diabetes, Zuckerkrankheit, verstehen Sie? Sie müssen Ihre Ernährungs-weise erheblich umstellen und künftig regelmäßig ein Medikament einnehmen!"
Herr Landhaber ist noch ein wenig blasser geworden als er ohnehin schon war und lamentiert lauhals, während er dem Arzt zweihundert Mark auf den Schreibtisch zählt:
"Himmel, da sind alle ihr Leben lang nie krank gewesen und nun lässt man einmal die Familie untersuchen und was ist? Ich, Gisela, die Kinder, Oma, Opa und Wallach Tristan – alle haben plötzlich Zucker und brauchen täglich Insulin!"
© W. Mürmann/Tomus Verlag, München